Ä S T H E T I K   z w i s c h e n   n a t u r   u n d   z i v i l i s a t i o n

» FORM FOLLOWS BEAUTY. « – OSCAR NIEMEYER (1907-2012)

JJ Ying auf Unsplash

Welt-erfahrung ist ästhetisch codiert

Wir erleben die Welt durch unsere Sinne. Diese Erfahrung prägt uns von Kindheit an und erschafft unser inneres Welt-Bild aus Szenarien und Objekten, die mit Bedeutung und mit Erwartungen aufgeladen sind. Diese innere Welt, die wir oft mit der äußeren verwechseln, legt sich als Filter immer stärker über die Unmittelbarkeit der Sinneserfahrungen, je älter und erfahrener wir werden. Dennoch: Die Unmittelbarkeit des sinnlichen Umfelds beeinflusst in der Regel unser Denken, Fühlen und Handeln zu jedem Zeitpunkt viel stärker und nachhaltiger, als wir es bewusst zur Kenntnis nehmen. Und unsere meist unbewusst vorgezeichneten Handlungsentscheidungen beruhen häufig auf ebenso unbewussten ästhetischen Bewertungen von Situationen und Umgebungen.

 

welt-erfahrung ist immer öfter architektur-erfahrung

Wenn wir es im Alltag zeitlich schaffen, suchen wir gerne die Erde, das Wasser, das Grün, den Himmel und das Licht als unsere natürliche Heimat auf. Naturumgebungen passen zu unserem biologischen Wesen wie ein Handschuh zur Hand, und sie können ein glückhaftes Gefühl der Verbindung zur Welt in uns wachrufen, das in unserem erwachsenen Leben selten geworden ist. Denn unser eigentlicher Alltag findet heute zumeist in hochtechnisierten, künstlichen und architektonisierten Umwelten statt, die viele unserer biologischen Funktionen ignorieren, andere im Übermaß beanspruchen. Umso wichtiger ist es, zu fragen, inwieweit diese künstlichen Umwelten – seien es Städte, Häuser oder Innenräume – nicht nur innerhalb ihrer Nutzfunktionen, sondern auch in ihrer ästhetischen Erscheinung eine harmonisierende, psychisch und physisch stabilisierende Wirkung auf uns ausüben können. Denn unsere ästhetisch sehr empfindsame Gesamtverfassung ist es, die letztlich über unsere Kreativität, Motivation und auch unsere Leistungsfähigkeit entscheidet.

ästhetik und biologie

Als biologische, evolutionär entwickelte Organismen teilen wir viele Bedürfnisse, aber auch physische und psychische Verarbeitungs-prozesse mit unseren Artgenossen und anderen Säugetieren. Unsere Sinne sind auf ähnliche Weise organisiert, unsere Motivationen sind auf ähnlich existentielle Grundbedingungen für unser Überleben ausgerichtet. Wir lesen an unserem Umfeld auf ähnliche Weise ab, ob es unseren Bedürfnissen freundlich entgegenkommt oder nicht. Wir reagieren auf ähnliche sinnliche Signale mit Aufmerksamkeit, Neugier oder anderen Formen der Aktivierung und haben deshalb auch viele ähnliche ästhetische Vorlieben oder Abneigungen. 

ästhetik und biografie

Von Kindheit an entwickelt sich unsere Biografie und unser Welt-zugang durch eine Vielzahl von sozialen Bindungserfahrungen, prägenden Ereignissen und grundlegenden Charaktereigenschaften zur einzigartigen Signatur unserer Persönlichkeit. Die damit verbun-denen Eigenheiten unserer intuitiven ästhetischen Bewertungen, Orientierungen und soziokulturellen Gewohnheiten verarbeiten die ästhetischen Einflussfelder der Biologie und der Kultur zu unserem ganz individuellen ästhetischen Lebensstil. Sie sorgen dafür, dass

wir – trotz vieler Gemeinsamkeiten der ästhetischen Erfahrung – durchaus mit anderen über Geschmack streiten können.  

Ästhetik und kultur

Über Jahrtausende haben Menschen nicht nur verschiedene Auf-fassungen des Menschseins, sondern auch differenzierte Sprachen und Kulturen entwickelt. Es entstehen jeweils eigene Muster der sozialen Kommunikation, der Gruppenzugehörigkeit und der Herr-schaftsdiskurse, die viele biologisch verankerten Konstanten unserer ästhetischen Erfahrung überformen. Diese Muster artikulieren und verstetigen sich in sinnlich erfahrbaren Oberflächen, Räumen und Zeichensystemen. Lifestyle und Ästhetik eines kulturellen Raumes erzählen viel darüber, welche Entwicklungs-ideale Menschen für sich selbst und innerhalb der Gesellschaft verfolgen. 

ästhetik und ganzheitliche gesundheit

Sinnlich-ästhetische Erfahrung und ihre Einordnung bildet also auf allen Ebenen des Menschseins die vielleicht wichtigste Grundlage unserer Selbstwahrnehmung und Orientierung in der Welt, Sie prägt  durch Metaphern und bildliche Schemata auch unser abstraktes Denken und stattet es durch die Rückbindung an unsere Leiblichkeit mit existentiellem Sinn aus. Es überrascht daher nicht, dass die Qualität ästhetischer Erfahrung einen entscheidenden Einfluss auf Gesundheit, Resilienz, Wohlbefinden, Motivation, Sozialverhalten und Leistungsfähigkeit von Menschen ausübt – einen Einfluss, der zu Recht immer stärker im Fokus interdisziplinärer Forschung steht.